1969 begann ich eine Ausbildung zum Krankenpfleger im damaligen Psychiatrischen Landeskrankenhaus (PLK) Wiesloch. Eine gute Freundin hatte dort eine Ausbildung begonnen. Die Station auf der ich meinen Dienst versah wurde zu dieser Zeit "MAR I" genannt, welches eine Abkürzung für "Männer Aufnahme Ruhig" war. In diese Abteilung wurde zunächst einmal jeder Mann eingewiesen, der nicht durch besondere Aggressivität aufgefallen oder der ruhig gestellt war. Das bedeutete, dass in diesem Haus, geistig Behinderte, Alkohol- und Drogenabhängige auf Entzug, Menschen mit Depressionen, Überlebende eines Suizidversuches sowie auch Menschen mit Psychosen und Neurosen zusammen untergebracht waren. Die aggressiven Patienten waren in den Stationen MU I und MU II (MU für Männer unruhig). In den MU Stationen gab es, zusätzlich zu den auch in MAR vorhandenen Fixierungsmöglichkeiten, die so genannten Gummizellen. Alle mir bekannten Häuser waren "geschlossene" Einrichtungen. Das bedeutete, dass alle Türen verschlossen waren und nur das Pflegepersonal mit entsprechenden Schlüsseln durch die Türen kam. Die Stationen waren streng hierarchisch organisiert, die Leitung lag bei den Ärzten, darunter kamen die Stationspfleger und unter diesen die Pfleger nach Ausbildungsstand und Dienstjahren. Das gesamte Pflegepersonal, darunter auch die Auszubildenden wie ich im Alter von 16 bis 18 Jahren, war angehalten mit Autorität aufzutreten und "Sonderwünsche" der Patienten möglichst nicht zu gewähren.
Patienten fanden sich in dieser Anstaltsstruktur, ähnlich wie in Gefängnissen, bald mehr oder weniger zurecht. So fanden sie relativ schnell heraus, wer vom Pflegepersonal unsicher war und sich hinter der künstlichen, oft nur durch den Besitz eines Schlüssels zur Freiheit bedingten, Autorität verbergen musste und wer sie als Menschen ernst nahm.
Mir fiel sehr bald Herr V. auf, ein über 70jähriger Mann aus Mannheim, der bei der Medikamentenverteilung seine Tabletten immer im Mund behielt und sie in einem unbeobachtet geglaubten Moment auf der Patiententoilette entsorgte. Herr V. trainierte auch regelmäßig seine Muskeln durch Situps, Liegestützen und das Stemmen von Stühlen. In einem Gespräch vertraute er mir an, warum er "in der Anstalt" war: Er arbeitete bis zu seinem Rentenalter für einen großen Chemiekonzern und war überzeugt davon, dass Agenten dieses Konzerns seine Gesundheit ruinieren wollten und nach seinem Leben trachteten. Es war ihm durchaus klar, dass es letztlich dieser "Verfolgungswahn" war, der ihn in diese Einrichtung brachte. Es schien ihn aber nicht sonderlich zu stören, da er sich hier sicher fühlte. Ein Problem war für ihn, dass er zur Untätigkeit und ein "vor sich hin dämmern" verurteilt war. Es gab weder Therapeuten noch Familienangehörige, die sich wirklich um ihn kümmerten.
Ein weiteres Ergebnis unseres Gesprächs war, dass er gerne Aquarelle zeichnen würde. Er hatte nicht die Möglichkeit Farbe, Pinsel, Stifte und Büttenpapier zu kaufen. Einerseits weil er nicht über ausreichend Taschengeld verfügte. Zum anderen, weil er weggeschlossen war und keine Möglichkeit hatte die Anstalt zu verlassen und ein Fachgeschäft in der Stadt aufzusuchen. Mein Angebot, dass ich mir 50.- DM von meinen Eltern leihen wollte um ihm die benötigten Utensilien zu besorgen nahm er zunächst ungläubig zögernd, dann aber begeistert an. Er schrieb mir ganz genau auf, was er benötigte und hatte Tränen in den Augen als ich ihm einen Tag später die Sachen aushändigte. Nun setzte ein allgemeines und anerkennendes Staunen in der Anstalt unter dem Pflegepersonal und den anderen Patienten ein über die hochwertigen und schönen Aquarelle die Herr V. herzustellen in der Lage war. Er verkaufte sie an den Wochenenden den Besuchern der anderen Patienten für kleines Geld. Seine Motive waren meist Landschaften aus europäischen Wäldern. Andere Motive waren Zeichnungen von Wüsten, Oasen und Kamelen. Ganz selten waren auch Portraits darunter. All diese Aquarelle entstanden ohne Vorlage. Innerhalb weniger Wochen hatte ich die 50.- DM meiner Eltern zurück und bekam eine weitere Summe von ihm um weiteres Büttenpapier und Zubehör zu kaufen. Zur Belohnung für meinen Einsatz bekam ich Aquarelle, die meine Eltern erfreuten und viele Jahre die Wand ihres Wohnzimmers schmückte.
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